Heute ist der 16. Saatmond 26 n.B.

Es war einmal vor sehr langer Zeit ein junger Schäfer namens Torge. Der Sohn Yddlands lebte bis zu seinem 20. Sommer glücklich und zufrieden in einem kleinen Dorf in der Nähe Argentors. Eines schönen Tages reiste er ans Meer, um dort die gute Luft zu atmen und ein Mal in seinem Leben wirklich große Fische zu angeln. So ward er zwei Tage unterwegs und im Morgengrauen des dritten Tages erblickte er das blaue und unendlich weite Meer direkt vor sich. Die Straße führte ihn direkt in ein kleines Fischerdorf und am nächsten Morgen in aller Früh fuhr Torge mit einem der Schiffer auf's Meer. Dort fischten sie und die Netze des Fischers waren am Abend voller als je zuvor. So ging es eine ganze Weile, bis Torge bemerkte, wie sehr er seine Schafe, seine Familie und sein Dorf vermisste.
An seinem letzten Tag auf See gerieten sie in ein furchtbares Unwetter. Das Boot kenterte und zerschellte an einem Felsen. Nur mit Not konnte der junge Schäfer ein Brett greifen und sich daran über Wasser halten. Nach einiger Zeit im Wasser - Torge hatte jegliche Orientierung verloren - tauchte ein Schiff am Horizont auf und es rettete den sich mit aller verbliebenen Kraft am Holz festklammernden Torge. Als er an Bord war, verlor er die Besinnung und erwachte erst wieder in einem fremden Land. Im Gegensatz zu Yddland schien dieses Land keine Insel zu sein, sondern einfach nur aus Land und noch mehr Land zu bestehen. Der Name dieses riesigen Landes war „Mittelland“ und Torge vermochte sich kaum vorzustellen, wie viel Land ein Land haben müsse, um dann „Vielland“ zu heißen. Da er zu seinem großen Bedauern keine Möglichkeit sah, nach Yddland zurückzukehren, beschloss er umherzureisen.
Die nächsten Jahre zogen vorbei und es gab gute und schlechte Winter und Sommer für Torge. Manchmal lebte er im reinsten Luxus und speiste die feinsten Leckereien die das Land zu bieten hatte. Er schlief in bequemen Betten in noblen Gasthöfen, trank die feinsten Weine und konnte die schönsten Frauen tanzen sehen. Manchmal jedoch, wenn die Zeiten nicht so gut waren und er nur wenig Arbeit fand, schlief er in der Wildnis, bettelte um sein tägliches Brot und trank brackiges Wasser.
Irgendwann auf seiner Reise kam er in einen Teil des Landes, der sich deutlich von allen anderen Teilen unterschied. Die Bäume waren schwarz und verfault, die Tiere ausgehungert und die Menschen gramgebeugt. Er wusste nicht, dass ein dunkler Zauberer und eine mächtige Hexe diesen Landstrich zusammen unterworfen und geknechtet hatten. Die beiden, von ihrem Wissensdurst getrieben, erfuhren schnell von dem Wanderer aus fernem Lande. Sie luden ihn ein in ihrer Burg zu nächtigen und ihnen Geschichten zu erzählen. Erst boten sie ihm an für drei Tage zu bleiben, dann für eine Woche, schließlich dann für ein Jahr.
Während er die ersten drei Tage noch interessant fand, kam er in der folgenden Woche hinter das Geheimnis der beiden. Des Nachts wollte er fliehen. Die Gastgeber jedoch konnten ihn mittels magischer Kräfte aufhalten. Da er sich geweigert hatte, ihnen weitere Geschichten über seine Heimat und seine Reisen zu erzählen, beschlossen sie, ihm auf magischem Wege die Erinnerung zu rauben und sich selbst einzuverleiben.
So stand also bald ein völlig ahnungsloser Torge, bar jeder Erinnerung, an einer Landesgrenze - wie er erkannte. Vor ihm lagen grüne und saftige Auen, die ihm vertraut schienen, hinter ihm eine verkümmerte Einöde. Er folgte seiner Eingebung und reiste in das grüne Land und von dort aus weiter durch die Lande. Eines Tages dann heuerte er auf einem Frachtschiff an und es ging über das Meer auf eine Insel. Schon als sich aus weiter Ferne saftiges Grün in weichen Konturen aus dem Nebel enthüllte, überkam ihn ein Gefühl der Geborgenheit, der Vertrautheit und des Wohlbefindens.
Als das Schiff anlegte, umwehte der Geruch nach Portwein und frischem Heu seine Nase und Torge erinnerte sich an etwas, das so fern und doch so wichtig war. Das Bild, welches ihm im Kopf herumging, zeigte eine Feier: Es wurde Port getrunken und alle waren glücklich. Doch so sehr er sich auch bemühte, seine Erinnerung zu festigen, umso mehr entglitt sie ihm, wie Nebel der sich umso stärker verflüchtigt, je mehr man versucht, ihn mit hektischen Bewegungen am Morgen einzufangen.
Seine Neugier aus seinen Tagen als Reisender war geweckt und er verlies den Hafen, um sich auf der Insel umzuschauen. Nach einigen Tagesreisen erstreckte sich rechter Hand in großer Entfernung zum Weg ein natürlicher und unheimlicher Wald. Ein leichter Schauer lief ihm über den Rücken, ohne dass es kalt war oder er den Grund kannte. Er fühlte sich wieder an etwas erinnert, Kinder, er war selbst noch ein Kind, um ein Lagerfeuer versammelt, die sich Gruselgeschichten über Feen und diesen verbotenen Wald erzählten. Doch genau wie schon zuvor verblasste auch diese Erinnerung schneller als der letzte Sonnenstrahl am Abend.
Verzweifelt und traurig über die Unfähigkeit sich an jene Tage zu erinnern, kehrte er in einem kleinen Dorf ein. Hier schienen Bauern und Schäfer zu wohnen und als er ins Dorf kam, lief ihm eine junge Frau entgegen, die unheimlich erfreut war ihn zu sehen, obwohl er sie nicht kannte. Doch die junge Frau kannte seinen Namen. Betrübt erzählte sie ihm, dass er ihr Bruder sei, der vor zehn Jahren verschwand. Und so brachte sie ihn zum Haus der Mutter. Die nächsten Stunden waren sehr schmerzlich für ihn, denn während alle ihm viel Herzlichkeit entgegenbrachten, fühlte er sich nicht fähig darauf wie erwartet zu reagieren. Er kannte diese Leute nun mal nicht, jedenfalls konnte er sich nicht an sie erinnern.
Um ihn aufzuheitern, brachte seine Mutter ihm etwas zu essen: Ein grobes, dick abgeschnittenes Brot mit Schafskäse und Zwiebeln. Als er über diese nette Geste nur verlegen lächelte, atmete er tief ein und der Duft dieses Essens wirkte auf ihn ein. Dieser durchdringende und bezeichnende Geruch fuhr ihm in die Nase und eine ganze Fülle von Erinnerungen stürmte auf ihn ein. Wie er dieses Brot immer bekommen hatte, wenn er sich als Kind verletzt hatte, sein Lieblingsschaf Lotte, die Heidschnucke, die als Hausschaf bei ihnen lebte und an das er sich so gerne an kalten Tagen kuschelte, die Wärme von gestrickten Wollsocken, der Geruch nach nassem Gras und das freudige Geräusch der Schafe, wenn sie auf eine saftige Weide gelassen werden. Dies alles stürmte auf ihn ein und in dem Taumel der Erinnerungen und dem Sturm der Empfindungen, brach der dunkle Zauber aus fernen Landen und Torge erlangte seine Erinnerung zurück.
Er verbrachte noch viele Abende damit, seine Geschichten an die Kinder und die Erwachsenen des Dorfes weiterzugeben, aber wichtig war ihm nun, zuhause zu sein und seinen Platz zu kennen.
Seitdem aber ist es Sitte im abergläubigen Yddland, einen Weitgereisten mit einem Stück Brot belegt mit Schafskäse und Zwiebeln zu empfangen, um böse Zauber, die er sich auf dem Weg vielleicht eingefangen hat, zu brechen.

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